12.


© Kurt Guttternigg

Die Stimme im Sturm

 

Der Tag war wie geschaffen für eine winterliche Wanderung. Kody Watts hatte keine Ahnung, dass er in ein paar Stunden dem Tod ins Auge schauen würde.

Kody Watts war in diesem Winter 18 geworden und dachte über die Frage nach, die alle Schüler in der letzten Klasse gleichermaßen beschäftigte: Was sollte er nach seinem Abschluss machen? Schnee und Frost waren ihm ganz egal – eine Wanderung bot die perfekte Chance, den Kopf frei zu bekommen, um über alle seine Möglichkeiten nachzudenken.

Seine Eltern wollten, dass er nicht so weit weg zog und auf die Universität von Michigan ging, die in der Nähe war. Wenn es da nicht klappte, dann würde auch irgendein College in Frage kommen, fanden seine Eltern. Aber Kody hatte andere Vorstellungen. Vielleicht eine Ingenieursschule oder die Luftwaffe. Irgendetwas Waghalsiges und Abenteuerliches. Das College konnte warten, oder?

Erst heute Morgen hatte er sich mit seinen Eltern über dieses Thema gestritten.

Mein Junge, wir haben schon für deine Zukunft gebetet, seit du ein kleiner Junge warst.“ Die Mutter hatte ihm die Hände auf die Schultern gelegt und ihn mit ihrem traurigsten Blick bedacht. „Hör wenigstens auf das, was Gott dir dazu sagt. Bitte.“

Gut, in Ordnung. Er wollte auf Gott hören … wenn da nur etwas zu hören wäre. Gott redete nicht so einfach zu den Menschen, wenigstens nicht zu so unschlüssigen Teenagern wie ihm.

Kody schnürte seine Wanderstiefel, zog sich den Parka an und machte sich auf den Weg. Sein Elternhaus lag in der Nähe einiger großer Seen, und der eine war für eine Wanderung nicht zu weit. Als er am zugerfrorenen Ufer ankam, schaute er zum Horizont. Dunkle Sturmwolken sammelten sich im Nordwesten. Seltsam, dachte er. Im Wetterbericht ist keine Rede von einem Unwetter gewesen.

Er zuckte mit den Achseln und schloss den Reißverschluss seiner Jacke. Er trug eine Wollmütze, Handschuhe und warme Unterwäsche. Es würde schon gut gehen. Die Wolken waren viel zu weit weg, um sich deswegen Sorgen zu machen. Aber der Wind blies stärker als erwartet. Er knöpfte den Kragen seiner Jacke fest am Hals zu. Na also. Das musste reichen.

Der See war groß, aber ziemlich flach. Jeden Winter fror er zu, und die Eisschicht war stark genug, um einen Lastwagen zu tragen. Es gab Jahre, in denen das Eis in der Mitte ein bisschen dünn blieb. Aber Kody hatte nicht vor, heute quer über den See zu laufen. Nur eine schöne, zielstrebige Wanderung über das dicke Eis um das Ufer. Drei Stunden, in denen er über sein Leben nachdenken konnte.

Was war aus seinem Kindheitsträumen geworden, n die er sich noch bis in die Mittelstufe gehalten hatte? Er wollte doch Arzt werden. Ein Notarzt zwischen Chaos und Rettung, Leben und Tod. Kody hatte sich vorgestellt, ein großartiger Arzt werden zu können, weil er an die Macht des Gebetes glaubt. Und damit würde er als Notarzt bestimmt ganz anders arbeiten können.

Doch irgendwann nach dem neunten Schuljahr waren Kody die Fächer Physik und Mathematik immer schwerer gefallen.

Krieg das endlich mal auf die Reihe, Kleiner“, hatte sein Bruder ihm geraten. „Sonst bleibst du dein Leben lang an Physik und Mathe hängen, bis du dein heiß ersehntes Examen machst.“

Es war das erste Mal gewesen, dass jemand zur Sprache brachte, wie schwer das Berufsziel Arzt zu erlangen war. Nicht nur schwer, sondern fast unmöglich.

Du kannst es schaffen, Kody“, hatte sein Vater ihm am Ende des ersten Jahres der Oberstufe gesagt. „Gib doch nicht deinen Traum auf, bloß weil es nicht einfach sein wird.“

Aber es gab j auch noch Football und Basketball und na ja, Mädchen. Viele Mädchen. Es war zwar nie zu ernsthaften Beziehungen gekommen, aber Zeit kosteten sie ihn auch so. Die einzige Möglichkeit, sich Kinos und Restaurants leisten zu können, war ein Teilzeitjob. Das alles ließ ihm wenig Zeit für das wichtige Lernen. Kody schrieb Vierer und Dreier, aber mehr war nicht drin.

Die Zeit verging, und Kody wanderete weiter.

So, wie er jetzt in der Schule sstand, würde er bei der Universität von Michigang keine Chance haben. Er musste bei einem Kleinstadt-College anfangen und sich hocharbeiten. Kody atmete tief durch und sah zu, wie die Atemwolke aufstieg. Es wurde kälter, keine Frage. Er schaute nach oben, und was er sah, ließ ihm das Herz stocken. Die Wolken waren über den See gezogen und machten den Eindruck, als könnten sie sich jeden Augenblick entladen.

Er war jetzt schon fast eine Stunde unterwegs – ein paar hundert Meter vom Ufer entfernt und auf dem schneebedeckten Eis. Er hatte es knapp halb um den gefrorenen See herum geschafft, doch er musste dringend umkehren. Wenn der Sturm losbrechen sollte, musste er unterwegs einen Unterschlupf suchen. Seinen Eltern hatte er nicht einmal eine Notiz hinterlassen. Es war Samstag, und beide waren mit Besorgungen beschäftigt. Sie dachten, er sitze zu Hause vor dem Fernseher. Wenn ihm irgendetwas zustieß, würde keiner wissen, wo man ihn suchen sollte.

Der erste Schnee fiel schon, als er umkehrte. Lieber Gott, lass mich sicher nach Hause kommen. Er senkte den Kopf und verdoppelte sein Tempo. Angst hatte er noch nicht. Er war schon vorher in Schneestürme geraten, allerdings nicht so weit von zu Hause weg. Außerdem fühlte er sich jedes Mal Gott näher, wenn er draußen im Freien war. Er spürte Gott dann direkt an seiner Seite.

Ein paar Minuten später blieb Kody einen Augenblick stehen und beobachtete nochmal die Wolken. Er war verblüfft, wie sehr der Himmel sich verändert hatte. In Minutenschnelle waren die Wolken richtig schwarz geworden und gefährlich tief gesunken. Fast schienen sie auf der gefrorenen Wasserfläche zu liegen. Kody spürte, wie die Temperatur sank, und während er wieder zu laufen anfing, fiel noch mehr Schnee. Er sah nach links und stellte fest, dass das Ufer nicht mehr zu erkennen war.

Er hielt den Blick gerade aus gerichtet, aber er konnte unmöglich wissen, ob er in die gewünschte Richtung ging oder in Richtung Seemitte geriet. Auf einmal kam eine heftige Böe angeweht, traf auf das Eis und wirbelte den Schnee auf, so dass Kody kaum noch die Hand vor den Augen sah.

Oh Mann, Gott. Hilf mir bitte, die Richtung zu halten.

Er hoffte, über das Eis zurück an die Stelle am Ufer zu kommen, wo er die Wanderung begonnen hatte. Da drüben würde es ihm weniger schwer fallen, einen Unterschlupf zu finden und bei Gelegenheit nach Hause zu kommen. Aber jetzt hatte Kody Angst, er könnte mitten auf den See geraten. Dann hätte er ein ernstes Problem. Er konnte durch das dünne Eis einbrechen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. In dem Fall brauchte er sich über die nächsten Jahre keine Gedanken mehr zu machen. Vor Einbruch der Nacht wäre er dann im Himmel. Aber selbst wenn er nicht einbrechen sollte, würde er die Kälte ohne Bewegung oder Schutz nicht lange ertragen. Und er konnte unmöglich wissen, wie lange der Sturm anhalten würde.

Bei diesen Gedanken änderte er sein Vorhaben und ging nach links auf das zu, war für das Ufer hielt. Fünf Minuten waren seit Einsetzen des Blizzards vergangen. Statt nachzulassen wurde er mit jedem Moment noch stärker.

Kody ging zehn Minuten lang weiter und nahm an, dass er gleich das Ufer erreichen würde. Doch noch fünf Minuten vergingen und dann weiter fünf, und wie eine Welle überfiel in Panik. Wenn er jetzt nun gar nicht Richtung Ufer ging? Wenn er so unglücklich im Kreis ging, dass er gar nicht mehr die Richtung erkannte? Seiner Schätzung nach war die Temperatur seit seinem Aufbruch um fast fünfzehn Grad gesunken. Damit waren es 20 Grad minus, eine Kälte, die vom Wind noch verstärkt wurde. Die eisige Luft trocknete ihm die Lippen und Hals aus und schmerze in der Lunge. Er zog sich die Jacke über den Mund und atmete nach unten, um die Luft aufzuwärmen.

Vielleicht sollte ich einen Schritt zulegen … Kody fing an zu joggen, aber nach ein paar Minuten war er außer Atmen und hatte kaum noch Kraft. Er stieß gegen einen Eisklumpen und stolperte. Mühselig kämpfte er sicht wieder auf die Beine. Er hatte noch nie in seinem Leben solch eine Angst gehabt. Der Orientierungssinn war ihm völlig abhanden gekommen. Er konnte jetzt nicht einmal die Hand vor den Augen sehen und hatte keine Ahnung, wohin er gehen sollte.

Ihm wurde schwindelig, und als er sich zu bewegen versuchte, fiel er wieder hin. Was war das? Warum ging ihm der Gleichgewichtssinn verloren? Dann wusste er, was los war: Er war schneeblind. Das Gleiche war vor ein paar Jahren mit drei Wanderern aus der Gegen passiert, die sich während eines Sturms im Wald befanden. Die Rettungstrupps hatten zwei von ihnen nur noch tot bergen können, und der dritte Mann hatte einen Monat lang im Koma gelegen, bis er schließlich berichten konnte, was geschehen war. Sie waren von einem Blizzard überrascht worden und hatten völlig die Orientierung verloren. Nicht nur das Gefühl für links und rechts, sondern auch für oben und unten.

Kody versuchte noch einmal aufzustehen und fiel wieder auf das Eis. Tja, das war´s dann wohl. Genau das passierte jetzt ihm. Er konnte wegen des blendend weißen Schnees nicht mehr unten von oben unterscheiden. Gott … ich bin in Gefahr. In großer Gefahr … Hilf mir, Herr. Bitte.

Seit er vor Jahren zum ersten Mal mit dem Rucksack die Wälder in seiner Umgebung erkundet hatte, hatte Kody manchmal von Leuten gelesen, die plötzlich in einen Schneesturm gerieten und schneeblind wurden. Sie verloren dann die Orientierung vollständig und erfroren, manchmal nur wenige Meter von einem sicheren Ort entfernt.

Kody schlug sich diese Gedanken aus dem Sinn und zwang sich zu einer aufrechten Sitzhaltung. „Ich muss mich bewegen“, befahl er sich mit lauter Stimme. „Beweg dich“

Er griff nach vorne, grub seine Finger in den Schnee und zog seinen Körper nach. Wegen des Schwindelgefühls wurde ihm ganz schlecht. Ab und zu hörte er ein tiefes Ächzen unter der gefrorenen Oberfläche des Sees.

Hilfe!“, rief er. Und wenn das Eis nun brach? Dann würde er mit Sicherheit im eiskalten Wasser ertrinken. „Hilft mir denn niemand?“ Aber seine Schreie wurden vom Wind verschluckt. Er griff wieder in den Schnee und zog sich weiter.

Wenigstens konnte er sich bewegen.

Die Zeit verging, und der nächste fürchterliche Gedanke überfiel Kody: Was, wenn er nur im Kreis koch, wertvolle Energie verschwendete und dem Ufer kein Stück näher kam? Er blieb liegen und ließ seinen Kopf auf den Schnee sinken, wobei er die Augen vor dem entsetzlichen, blendenden Weiß schloss, das ihn zerstörte.

Bitte, Gott, hilf mir den Weg zu finden!“ Laut rief er die Worte, während ihm Tränen in die Augen traten und auf den Wangen zu Eis erstarrten.

In diesem Augenblick hörte Kody den tiefen Hall des Nebelshorns, das zur Rettungswache am Ende des Sees gehörte, nicht weit von seinem Zuhause. Zum ersten Mal seit fast einer halben Stunde hatte Kody einen Anhaltspunkt und die Chance, seine Richtung zu finden. Dann hörte er eine Stimme, die über den Lautsprecher der Rettungswache verstärkt wurde. „Sei vorsichtig“, sagte die Stimme laut und deutlich. „Das Eis ist in der Seemitte gebrochen- Du bist ganz dich an diesem Bereich.“

Kody schlug die Augen auf. Hoffnungsvoll schlug sein Herz schneller. Der Sturm war so stark wie zuvor, der Schneewirbel blendete immer noch. Aber irgendwie hatte der Mann von der Rettungswache ihn gesehen. Danke, Gott. Du hast mein Gebet erhört.

Er dachte nur noch an das, was der Mann gesagt hatte. Er musste dicht an die Stelle geraten sein, wo das Eis gebrochen war. Kody holte tief Luft und rutschte in Richtung der Stimme. Wieder hörte er eine Warnung: „Vorsicht! Halte dich rechts und klettere über die Betonmauer, wenn du angekommen bist.“

Die Stimme halt Kody weiter und erfüllte ihn mit Frieden. Wenn er einfach weiter auf die Stimme zu kroch, dann würde er irgendwann bei der Rettungswache ankommen. Zentimeter um Zentimeter, Minute um Minute hielt Kody durch. Er hörte auf die Stimme und hielt sich rechts. Schließlich erreichte er mit tauben und vom Schnee ganz wunden Fingern die Mauer. Erschöpft schaute er auf. Beim Blick durch den Schneesturm sah er vor sich das Licht in den Fenstern der Rettungswache. Er kletterte über die Ufermauer und tastete sich durch tiefe Schneeverwehungen zur Tür der Wache vor.

Ich lebe“, flüsterte er, als er die Hand zum Klopfen erhob. „Ich lebe.“

Bevor er das Holz berühren konnte, öffnete sich die Tür, und er spürte, wie er von einem großen Mann hineingezogen wurde. Zwei Minuten darauf atmete Kody wieder normal und konnte die Augen öffnen. Er blickte in das warmherzige, freundliche Gesicht eines bärtigen Mannes, den er noch nie gesehen hatte.

Komm hier herüber.“ Der Mann half Kody in einen Stuhl und bot ihm einen Becher heißen Kaffee an.

Danke.“ Kody war zu verblüfft, um etwas sagen zu können, obwohl ihm das Herz voll war. Stattdessen starrte er den Mann an, der ihm das Leben gerettet hatte. Wer war das? Und wie hatte er ihn so gut durch den Blizzar sehen können, dass er ihn in die Sicherheit geleitete? Wer auch immer das war – der Mann war sympathisch; irgendetwas an ihm bewirkte, dass Kody sich sofort wohl fühlte.

Der Mann saß an einem Tisch gegenüber und lächelte ihn an. „Du hast dich da draußen verirrt.“ Er stand auf, um den Becher nachzufüllen.

Kody nickte. „Ja, ich wusste nicht mehr, wo ich war. Konnte nichts mehr sehen.“

Der Mann betrachtete Kody ganz genau. Seine Augen waren kristallblau, eine Farbe, die Kody noch nie gesehen hatte. „Ja, ich weiß. Ich wusste, dass du verirrt warst, also habe ich das Nebelhorn eingeschaltet. Du warst ganz nah am offenem Wasser.“

Woher wussten Sie … „ Kody leckte sich die Lippen. Sie waren immer noch eiskalt. „Ich meine, wie konnten Sie mich denn sehen?“

Du hast um Hilfe gerufen.“ Der Mann grinste ein bisschen. „Das ist meine Job.“

Sie meinen als Rettungsdienst?“

Könnte man so sagen.“ Der Mann zuckte die Achseln. „Ich musste für deine Sicherheit da draußen sorgen.“

Während des Wortwechsels zog das Unwetter ab. Kody war immer noch total erschöpft, aber er wollte nach Hause, weil man sich dort vielleicht Sorgen um ihn machte. „Ich breche am besten mal auf.“ Er erhob sich und schüttelte dem Mann die Hand. „Noch einmal vielen Dank. Sie … Sie haben mir das Leben gerettet.“

Als er sich umdrehte und schon gehen wollte, fiel Kody noch etwas ein. Normalerweise war die Rettungswache am See im Winter geschlossen. „Warum waren Sie überhaupt hier?“

Forschungsarbeiten.“ Der Mann zwinkerte ihm zu.

Kody nickte und gab sich mit der Antwort zufrieden. Er dankte dem Mann noch einmal und ging nach Hause.

Erst in der Sicherheit seines Elternhauses stellte Kody fest, dass er sieben Stunden lang weg gewesen war. Seine Eltern waren zu Hause und wollten gerade die Polizei anrufen, als Kody eintrat. Kody brauchte zehn Minuten, um die ganze Geschichte zu erzählen.

Das ist unmöglich.“ Sein Vater verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. „Die Wache ist im Winter geschlossen.“

Vielleicht war es ein anderes Gebäude am See“, warf die Mutter ein.

Kody schüttelte den Kopf. „Nein, Mama, ich kenne doch die Rettungswache.“ Er setze sich auf den nächsten Stuhl. „Ich weiß, dass sie zur Zeit normalerweise geschlossen ist, aber dieser Typ da hat mir echt geholfen. Hat gesagt, dass er Forschungsarbeiten oder so was macht.“

Seine Eltern runzelten gleichzeitig die Stirn.

Die Einrichtung ist geschlossen-“ Sein Vater sprach mit leiser Stimme. „Ich bin neulich vorbeigekommen. Da stand sogar ein großes Schild: Im Winter geschlossen.“

Kody war allmählich frustriert. „Hört mal, ich bin doch nicht verrückt! Ich ja noch den Kaffeegeschmack auf der Zunge. Der Mann hat mir das Leben gerettet.“

 

***

 

Nach einem langen Schlaf wachte Kody am nächsten Morgen mit dem Entschluss auf, den Mann von der Rettungswache aufzusuchen und ihm nochmals zu danken, dass er ihm das Leben gerettet hatte. Er zog sich seinen alten Parker an und ging zur Rettungswache. Als er zum Eingang kam, kam ihm alles rätselhaft vor. Die Wache war fest verschlossen. Eine Kette verriegelte die Doppeltür. Das Betongebäude wirkte leblos und kalt. Verwirrt ging Kody zur Hintertür, sah aber, dass sie unter einer meterhohen Schneewehe fast begraben war. Alle Anzeichen deuteten daraufhin, dass hier seit Wochen niemand gewesen war, wenn nicht seit Monaten.

Für den Augenblick gab es sowieso keine Erklärung. Es hatte seit dem plötzlichen Sturm von gestern nicht mehr geschneit. Vor der Tür hätte es deutlich sichtbare Spuren von Kodys Fußabdrücken geben müssen. Mit mehr als seltsamen Gefühlen kämpfte sich Kody durch die Schneewehe zur Tür und sah das Schild: „Von Oktober bis April geschlossen.“

Er vergaß zu atmen. Wie konnte die Wache geschlossen sein? Was war mit seinen Spuren vor der Tür passiert? Und überhaupt, wo waren die Spuren des Mannes? Kody untersuchte nochmal die verschlossene, vom Schnee zugewehte Tür. Wie war der Mann hineingekommen? Er stand reglos da und erinnerte sich an die Begebenheit vom Tag zuvor. Dies hier war auf jeden Fall die Stelle gewesen, zu der er gekommen war. Hier war es, wo der Mann, sein Retter, ihm heißen Kaffee eingeschenkt hatte. Das einzige Nebelhorn in der ganzen Umgebung war hier in der Rettungswache.

Plötzlich fiel Kody ein, dass es noch eine Möglichkeit gab, die Identität des Mannes zu klären. Die Rettungswache war dem Sheriff des Ortes unterstellt. Kody eilte nach Hause und rief bei der Polizei an.

Niemand hatte Zugang zur Rettungswache, seit sie im Herbst geschlossen wurde. Das Gebäude ist stillgelegt.“

Kody legte mit zitternden Händen auf. Vielleicht wusste jemand an der Universität, was hier los war. Er machte noch einen Anruf und fragte, ob jemand die Genehmigung erteilt hatte, in der Wache Forschungsarbeiten zu betreiben.

Nein.“ Die Stimme in der Leitung klang gelangweilt. „Der Bezirk genehmigt außerhalb der Saison keinerlei Tätigkeiten in der Wache.“

Kody legte auf und ging auf die Knie, die ihm bei seiner Erkenntnis weich geworden waren. Dann erinnerte er sich daran, warum er eigentlich die Wanderung gemacht hatte – er wollte Klarheit über seinen Lebensweg. Als es ganz danach aussah, dass der Sturm ihn umbringen könnte, hatte er Gott nochmals um Wegweisung gebeten, wenn auch in anderer Hinsicht.

Eine Ahnung überkam ihn.

Kann das denn sein?“ Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken. „Ist so etwas möglich?“

In diesem Augenblick erkannte er, dass es so gewesen sein musste. Ja, es war möglich. Gott hatte ihm durch ein Wunder das Leben gerettet. Und wenn Gott ihn gerettet hatte, dann musste es deshalb gewesen sein, damit er auch anderen das Leben rettete.

Und das hieß, dass er aufs College gehen sollte, um Medizin zu studieren. Ganz so, wie er es sich damals als Junge erträumt hatte.

 

***

Heute studiert Kody an der medizinischen Fakultät und ist auf dem besten Weg, Arzt zu werden. Und obwohl er es nicht beweisen kann, ist er überzeugt, dass der Mann, der ihm an diesem furchtbaren Sturmtag das Leben gerettet hatte, niemand anderer als ein Engel war. Ein Engel, der ausgesandt war, um ihm den Weg nach Hause zu weisen … und den Weg in eine Zukunft, die Gott schon lange für ihn geplant hatte.


Aus dem Buch "Engel im Streifenwagen" von Karen Kingsbury
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Credits
 

Alle Fotos / Bilder von:
www.pixelio.de

 
 
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